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Wenn das Land still ist

Roman, Piper Taschenbuch 30512

Erschienen am 01.12.2017
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783492305129
Sprache: Deutsch
Umfang: 384 S.
Einband: kartoniertes Buch

Leseprobe

03:54 - 15:14 Junge, aufgekratzte Stimmen weckten Harald Kronauer, und er war ihnen dankbar, denn sie wurden begleitet vom Klackern der Absätze einer unsichtbaren Frau. Es war warm, der Sommer mächtig, und so berührten wohl nackte Sohlen das Leder des Innenschuhs, und diese morgentrübe Spekulation ließ Kronauers Blut zusammenfließen zu einer verwirrten, ziellosen Erektion. Während die Stimmen leiser wurden, strich er schlaftrunken über den Stoff seiner Pyjamahose, aber schon schwand die Erregung wieder. Er kannte das: Festgefahren im Optionenschlamm, Kontingenzennebel, Kontingenz führt gern zu Inkontinenz, hatte einer in der Uni auf ein Schreibpult geschrieben. Er drehte sich vorsichtig um, bemüht, Johanna nicht zu wecken, seine noch schlafende Frau, die ihm Besonderheit und Liebenswürdigkeit bescheinigte, einfach indem sie hier lag, zusammen mit ihm in ihrem zu kleinen und durch ihre vielen Schränke noch kleineren Zimmer. Weiße Schränke mit aufgeklebten, dunkelbraun gebeizten dünnen Holzlättchen, als wären dies Papierwände, die er nur zurückschieben müsste, und eine japanische Landschaft, geordnet und durchdacht, tauchte dahinter auf. Dabei waren es einfache Sperrholzplatten aus schleswig-holsteinischem Kiefernholz, Abfall, der beim Zuschneiden entstand. Blasses Morgenlicht wurde durch den Vorhang zu weichen Wellen gebrochen, die über die Bettdecken und Haut flossen, seine, ihre, die ihres Kindes, das sich in der Nacht zu ihnen geflüchtet hatte. Als wolle es der Tag Kronauer leicht machen. Komm schon! Man hat sich immer um dich gekümmert, man wird sich immer um dich kümmern. Kronauer konnte nicht anders, als sich als Mittelpunkt der Welt zu fühlen, er war es, um den sich alles drehte, um den sich alle kümmerten. Er hatte die Dinge immer geschehen lassen, hatte gestaunt, was ihm alles widerfuhr. Er wollte sich zwingen, aktiv zu werden, aber schon vertrieb das, was heute zu tun sein würde, die Traumgespinste, dämpfte Erregung und Serotoninspiegel und weckte ihn endgültig auf. Er schob Decke und Kissen zu einem niedrigen Wall zusammen, sodass der kleine Maximilian, der zwischen Johanna und ihm lag wie ein umgekehrtes Ausrufezeichen, nicht versehentlich herausrollte, stand auf und ging in die Küche. Dort stand der Wecker. Die Uhr aus-, das Radio anstellen, Kaffee machen - das war eine gleitende Bewegung, ein Abschwingen in den kommenden Tag. Es war vier Uhr früh an diesem 12. August, einem Mittwochmorgen. In den Nachrichten wurde von einer spontanen Versammlung vor der JVA Köpenick berichtet, ein Protest gegen die Ausweisung des nigerianischen Künstlers Merlin. Heute lief die Frist ab. Das gilt auch dir, dachte Kronauer, und dann: Das wird wieder Streit geben. Er goss Wasser in die Tasse und sah müde zu, wie sich die braunen Körnchen in einem Strudel auflösten. Ein Flashmob, hieß es. Vor allem Clubgänger hatten sich vor dem Gefängnis versammelt, dabei saß Merlin noch gar nicht ein. Es hatte in letzter Zeit häufiger ähnliche Aufrufe gegeben. Mal wurden spontan Straßen blockiert, mal Fabriken, mal ein Steakrestaurant oder ein Reisebüro. Mal wurden Farbbeutel geschmissen, mal gab es spontane Tanzveranstaltungen. Er nahm den Kaffee und lief ins Arbeitszimmer, stellte die Tasse auf das Nierentischchen, dessen schwarze, glasgeschützte Platte mit Büchern und Papier bedeckt war, und setzte sich in den Sessel. Die Beine übereinandergeschlagen, betrachtete er die Rücken der Bände, die vor ihm lagen, griff dann aber nach der Akte, die er sich gestern Nacht auf den Tisch gelegt hatte. Müdigkeit umschmeichelte seine Stirn wie ein sanfter Hauch, und er gähnte ausdrücklich, weil er gelernt hatte, dass Gähnen wach macht. Er schlug die Akte auf und las den Fall noch einmal, den er nun schon so häufig studiert hatte. Boddensieg, der junge Kollege, der mit dem Fall betraut war, hatte ihm die Akte vor Wochen zögerlich überlassen. Kronauer ließ die Worte, die er schon kannte, auf sich wirken. Du hast nichts mehr damit zu tun, es liegt an ihm.